„Die hier vorliegende umfangreiche Artikelsammlung zur Sozialpsychiatrie mit ihren fundierten, kritischen und engagierten Beiträgen zu deren Entwicklung, Kontroversen und Perspektiven steht für das weiterhin lebendige Leitbild einer sozialen Psychiatrie, die durch Beharrlichkeit und Ideenreichtum vorangetrieben wird.“ Beate Kubny-Lüke, Psychosoziale Umschau, 1/2002)
Mehr als 40 Autoren berichten in diesem Buch über die wichtigsten psychiatrischen Aspekte komplexer Theorie- und Handlungsfelder. Weiter- und Neuentwickeltes in Diagnostik und Therapie wird ebenso vorgestellt wie die rechtliche Dimension des Fachs. Darüber hinaus nehmen Erfahrungsberichte und Selbstzeugnisse Psychiatrieerfahrener einen breiten Raum ein. Und bei alldem fehlt weder die Sichtweise des Schriftstellers und Poeten noch der differenzierte historische Zugang zum Thema. Die Aktualität und Internationalität der Beiträge bietet einen Überblick über die Sozialpsychiatrie, der auf dem neuesten Stand ist. Das Buch richtet sich an alle in Psychiatrie, Psychotherapie, Beratung und Rehabilitation Tätigen, sowie an Psychiatrie- und Therapieerfahrene und deren Angehörige.
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Rezensionen:
In einer Zeit, in der über die Zukunft der Sozialpsychiatrie sorgenvoll diskutiert wird, legt
Martin Wollschläger, Psychologe an der Westfälischen Klinik Gütersloh, einen anregenden
Sammelband mit 52 Artikeln, Literatur- und AutorInnenverzeichnis und Namens-, Orts- und
Sachregister auf über 900 Seiten vor: Die Artikel verteilen sich auf folgende Gebiete:
— Neuere und Zeitgeschichte der Psychiatrie;
— Rechtsverhältnisse in der Psychiatrie;
— Allgemeine Bestandsaufnahme und kritische Reflexion;
— Orte psychiatrischen Handelns;
— Psychiatrische Therapeutik;
— Alternativen und Komplementares;
— Der Trialog aus Sicht der Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen;
— Forschung und Qualitätssicherung.
Vorwort, Einleitung und Ausblick greifen die alte Diskussion darüber auf, ob Sozialpsychiatrie
ein Spezialgebiet oder ein ‘Wesensbestandteil der Psychiatrie ist und wie dieser
Wesensbestandteil für die Zukunft gesichert werden kann. Führt die explizite Benennung als
Sozialpsychiatrie zu einer deutlicheren Wahrnehmung der damit verbundenen Ansprüche
oder dient sie eher der Aussonderung? Insbesondere die renommierten Ärzte sorgen sich
darum, ob es dauerhaft gelingt, sozialwissenschaftliche Ansätze in der Medizin als
wesentlich zu stabilisieren, und zwar sowohl unter Forschungs- wie unter
Versorgungsaspekten.
Die Zerreißprobe zwischen einer sozialen und einer naturwissenschaftlich- technologischen
Medizin wird exemplarisch deutlich an und in der Psychiatrie. Obwohl auf der
wissenschaftstheoretischen Ebene die Befunde deut in Richtung auf ein multifaktorielles
Bedingungsgefüge in der Entstehung und im Verlauf psychischer Erkrankungen weisen,
werden Konsequenzen bezüglich entsprechender Forschungsdesigns und Mittelvergabe
genauso wenig gezogen wie z.B. bezüglich der unterschiedlichen Zeitdynamiken von
sozialen, psychischen und körperlichen Faktoren. Am Beispiel des gesellschaftlich geprägten
Umgangs mit der Zeit lassen sich weitere Auswirkungen ablesen: so arbeitet eine Reihe von
Artikeln den Zusammenhang zwischen Umgang mit der Zeit und Beziehung zwischen
PatientInnen / Betroffenen und Tätigen heraus, so z.B. in den dichten Erzählungen in
„Soteriaelemente in der psychiatrischen Pflichtversorgung. Möglichkeiten der
Gewaltvermeidung“ oder in Renate Schernus‘ „Um weg vor Zielgenauigkeit –
Effektivitätsdogmen hinterfragen“.
Sozialpsychiatrie könnte sich, folgt man diesem Buch, auch dadurch auszeichnen, dass in ihr
die Beziehungen zwischen allen betroffenen Personen durch Respekt und Begegnung auf
gleicher Höhe bestimmt sind. Die Publikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie das selbst
realisiert: die Art und Weise, wie AutorInnen zu ihren Themen kamen, spielt für ihre
Zuordnung zu den oben aufgezählten Gebieten ebenso wenig eine Rolle wie die Form, in der
diese präsentiert werden. Entsprechend schlägt Wollschläger vor, den Begriff
„Sozialpsychiatrie als Kennzeichnung für ein grundsätzlich multiperspektivisches,
fächerübergreifendes und dabei gleich berechtigtes psychiatrisches Denken und Handeln
weiterzuverwenden“.
Was bringt das Buch? Es bringt eine Fülle von Anregungen zum Hineinschnuppern und
Weiterlesen, zum Wiederbedenken, zum Bedauern über abgebrochene Entwicklungen. Es
sichert aber auch durch seine Darstellung gewisse Entwicklungsprozesse. Es illustriert durch
eine Vielzahl von Berichten, dass die Entwicklung medizinischer Teilgebiete wie aller
Wissenschaften immer im Fluss ist und welche menschlichen Qualitäten der Medizin
verloren gehen, wenn die sozialen an andere Fachdisziplinen abgegeben werden – mal
abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, mit welcher Berechtigung die Medizin dann
über Versorgungsfragen mitreden will.
Es ist ein Lehrbuch in dem Sinne, dass es die eigenen Fragen anregt und das Weitersuchen,
wozu die umfangreichen Register und das Literaturverzeichnis sehr hilfreich sind. [...]
Alexa-Köhler-Offlerski
in: Dr. med. Mabuse 11/12 2002
„Psychiatrie ist eine soziale Psychiatrie – oder sie ist keine Psychiatrie.“ Diese Worte von
Klaus Dörner, die Niels Pörksen und Ralf Seidel in ihrer Einleitung zitieren, dienen dem
Herausgeber Martin Wollschläger nicht nur zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem
Begriff Sozialpsychiatrie, sondern führen ihn auch zu der Fragestellung, ob es angesichts der
bedeuten den positiven Veränderungen in Theoriebildung und Versorgungspraxis der
Psychiatrie der letzten 25 Jahren gelungen ist, die Psychiatrie in eine soziale Psychiatrie zu
wandeln.
In einem breiten Spektrum von Themen und Beiträgen widmet sich der umfangreiche und
schwergewichtige Band der Frage und vereint dabei namhafte Autorinnen und Autoren
unterschiedlicher Professionen und Ausgangslagen.
Der thematische Bogen spannt sich von den historischen Hintergründen über die
Rechtssituation in der Psychiatrie und die exemplarische Darstellung sozialpsychiatrischer
Entwicklungen an verschiedenen Orten psychiatrischen Handelns bis hin zur
multiprofessionellen Therapie, Forschung und Qualitätssicherung. Der Darstellung
psychiatrischer Alter nativen (z.B. Soteria, Weglaufhaus) sowie der kontroversen und
kritischen Sichtweisen von Psychiatrie-Erfahrenen und deren Angehörigen wird in zwei
umfangreichen Themenblöcken Raum gegeben. Abschließend wagen Erich Wulff
„Psychiatrie an der Wende zum dritten Jahrtausend“ und Luc Ciompi („Welche Zukunft hat
die Sozialpsychiatrie?“) einen Ausblick in die Zukunft, der in der Psychiatrie Tätige und
Psychiatrieerfahrene auffordert, sich dem Primat von Betriebswirtschaftlichkeit und
Technokratisierung in unserer Gesellschaft nicht zu beugen. Denn das, was bis heute an
sozialer Psychiatrie erreicht wurde, darf nicht gefährdet, sondern muss weiterentwickelt und
verbreitet werden.
Die hier vorliegende um fangreiche Artikelsammlung zur Sozialpsychiatrie mit ihren
fundierten, kritischen und engagierten Beiträgen zu deren Entwicklung, Kontroversen und
Perspektiven steht für das weiterhin lebendige Leit bild einer sozialen Psychiatrie, die durch
Beharrlichkeit und Ideenreichtum vorangetrieben wird.
Beate Kubny-Lüke
in: Psychosoziale Umschau 1/2002
[…] Die über 50 Beiträge namhafter Autoren in diesem Band berühren so ziemlich alle
wesentlichen Aspekte psychiatrischer Arbeit im psychosozialen Bereich. Diese Tatsache
schließt jedoch keineswegs brisante Themen, wie beispielsweise die Gabe von
Psychopharmaka oder Zwangsbehandlung (Unterbringungsmaßnahmen) in therapeutischen
Situationen (meist bekannter in ‘klassisch-psychiatrischen“ Veröffentlichungen) aus.
Den meisten Texten geht ein trialogisches Verständnis im Umgang mit psychischen
Störungen voraus, und so verwundert es kaum, dass ebenso ‘Betroffene‘ von ihren
Psychiatrie-Erfahrungen erzählen und damit einen subjektiven, gleichzeitig aber auch sehr
privaten Einblick in ihr Seelenleben liefern.
[…] Die erschütternden Zeugnisse von Mitarbeitern und Psychiatrie-Erfahrenen aus
vergangenen Jahrzehnten (z.B. ein Bericht aus der Anstalt Brandenburg) gehen genauso
“unter die Haut“ und regen ohne idealistische Beeinflussung zum Nach- und Umdenken an,
wie die Innenansicht des “Berliner Weglaufhauses“ Thilo von Trotha‘s (S. 467 ff) oder Peter
Lehmann‘s Beitrag zu Langzeitschäden nach Neuroleptika-Einnahme (S. 273 ff).
Leserinnen und Leser bekommen neben der Fülle historischer, rechtlicher oder
sozialpolitischer Fakten v.a. auch einen Zugang zu Orten psychiatrischen Handelns. Es sind
insbesondere Skizzen aus den ehemaligen zentralistischen Großkrankenhäusern Gütersloh,
Merzig oder Bremen-Ost, von denen wichtige Impulse zur “Entflechtung“ stationärer
Einrichtungen ausgingen, und deren Wandel man im Laufe der vergangenen Jahrzehnte
nachvollziehen kann.
Das Buch hält sein aktuelles Niveau u.a. dadurch, dass es Forschung und/oder
Qualitätsmanagement oder aber innovative Therapiekonzepte (z.B. Soteria) nicht
ausklammert, sondern durchleuchtet und mit einigen empirischen Daten untersetzt.
Am Ende gehört das Schlusswort dem vielleicht verdientesten Sozialpsychiater unserer
Zeit – Luc Ciompi. Er unternimmt die schwierige Aufgabe, in die Zukunft der
Sozialpsychiatrie zu sehen (S. 755 ff). Dort möge sich doch ein drei-dimensionales (biopsycho-
sozial) Verständnis der Psyche entwickelt haben, welches beinhaltet, dass
psychische Störungen und Krankheiten von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet und
behandelt werden können – und dies bedeute für alle Beteiligten einen Gewinn.
Ich denke, der Band ist ausgesprochen lesenswert und das liegt u.a. an der
Auseinandersetzung mit den positiven Entwicklungen die beschrieben werden, aber auch an
der Auseinandersetzung mit kritischeren Themen (Psychiatrie und deutsche Geschichte,
Psychopharmaka o. die Auflösung der Großkrankenhäuser). Wer als Leser jedoch schon mit
sozialpsychiatrischer Literatur vertraut ist, wird darüber hinaus weitere anregende,
nachdenkliche und sophistische Passagen entdecken.
Neben der inhaltlichen Qualität und Aktualität der einzelnen Kapitel überzeugen v.a.
die klar formulierten Positionen der Autorinnen und Autoren. Für sozialpädagogische Berufe
in psychiatrischen Arbeitsfeldern enthält das Buch einen überdurchschnittlich breit
angelegten Überblick sowie ein außerordentlich klares Verständnis von und Bekenntnis zur
Sozialpsychiatrie.
Michael Horn
in: www.buch-sozial.de; Info Sozial, April 2004
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