Aus unserer Reihe: Allgemeines Programm

Schmidt, Lothar

Klinische Psychologie

Entwicklungen, Reformen, Perspektiven

2001 , 516 Seiten

ISBN 978-3-87159-037-5

29.00 Euro

Menge:

[ Warenkorb ]

 

Die Klinische Psychologie hat seit den 70er Jahren in der Forschung und vor allem in der (psychotherapeutischen) Praxis eine rasante Entwicklung genommen. Damit ist eine erfreuliche Konsolidierungsphase zum Abschluss oder einem ersten Höhepunkt gekommen, deren aktueller Stand hier dargestellt wird.
Mit den Positionen der Klinischen Psychologie indes erfolgt fast keine fundamentalere kritische Auseinandersetzung. Eine allzu frühe Kanonisierung und die fortschreitende Professionalisierung der Klinischen Psychologie könnten jedoch zur Vernachlässigung entscheidender Erkenntnisse und Interventionsmöglichkeiten führen. Das gilt z.B. für den Bereich der Psychosen bzw. Ansätze der Psychiatriereform ebenso wie für die Gemeindepsychologie oder die Gesundheitsförderung.

Ein Anliegen dieses Buches ist es deshalb, nicht nur die in Forschung und Praxis dominierenden wissenschaftlichen Ansätze darzustellen, sondern auch weitere mögliche Grundeinstellungen sowie andere theoretische und praktische Herangehensweisen exemplarisch anzusprechen und in teilweise provokativer Form zu diskutieren. Am Beispiel von Psychiatriereformen, insbesondere der stationären Pflichtversorgung mit offenen Türen, werden Chancen und Veränderungen im psychologischen Anwendungsbereich reflektiert.

Inhalt:

Teil I: Abriss der Klinischen Psychologie: Konsolidierung

1. Das Gebiet der Klinischen Psychologie

2. Grundlagen der Klinischen Psychologie
2.1 Klinische Psychologie und Grundlagendisziplinen
2.1.1 Umfassende (Handlungs-)Modelle
2.1.2 Kernbereiche und psychologische Funktionen
2.2 Zur Forschung in der Klinischen Psychologie
2.2.1 Relevanz der Forschung und Übertragbarkeit von Ergebnissen in die klinisch-psychologische Praxis
2.2.2 Spotlights auf einige Aspekte der Forschung
2.3 Gesundheitssysteme und Gesundheitssystemforschung
2.3.1 Indikatoren von Gesundheitssystemen
2.3.2 Indikatoren der Gesundheit
2.4 Normen und Diagnosen
2.4.1 Normen in der Klinischen Psychologie
2.4.2 Diagnosen in der Klinischen Psychologie
2.5 Krankheit, Störung, Abweichung
2.6 Symptome und ihre Erfassung
2.7 Epidemiologie psychischer Störungen
2.8 Ätiologie und Entwicklungspsychopathologie
2.8.1 Ätiologische Bedingungen
2.8.2 Ätiologieforschung
2.8.3 Ätiologie-(Gleichgewichts-)Modelle
2.9 Modelle von Krankheit bzw. Störung
2.9.1 Medizinisches Modell
2.9.2 Psychosoziale Modelle
2.9.3 Systematisierung von Krankheitsmodellen

3. Klinische Klassifikation
3.1 Generelle Aspekte der Klassifikation psychischer Störungen und Krankheiten
3.2 Umfassende klinische Klassifikationssysteme
3.2.1 DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen)
3.2.2 ICD-10
3.2.3 Klassifikationssysteme für Kinder und Jugendliche
3.2.4 Kritik an umfassenden psychiatrischen Klassifikationssystemen
3.3 Alternativen zur gängigen psychiatrischen Klassifikation
3.3.1 Theoretische, funktionale, an den psychologischen Grundlagen orientierte Ansätze
3.3.2 Empirisch statistische Klassenbildung und -verfeinerungen
3.3.3 Pragmatische und humanistische Alternativen

4. Einzelfallarbeit
4.1 Aufriss
4.2 Ablaufschema der Einzelfallarbeit
4.2.1 Fragestellung, Problemstellung
4.2.2 Hypothesenbildung
4.2.3 Diagnostische Verfahren
4.2.4 Interventionen
4.2.5 Beendigung des Falles und Dokumentation

5. Klinisch-psychologische Diagnostik
5.1 Ein unübersichtliches Terrain
5.2 Ziele der Psychodiagnostik
5.2.1 Deskriptiv-klassifikatorische Psychodiagnostik
5.2.2 Theoriegeleitete Psychodiagnostik, insbesondere Persönlichkeitsdiagnostik
5.2.3 Diagnostik und Intervention
5.3 Messmethoden
5.4 Multivariate Psychodiagnostik
5.5 Psychometrische Einzelfalldiagnostik
5.6 Klinische versus statistische (mechanische) Urteilsbildung
5.7 Integrierte, sophistizierte klinische Vorgehensweisen

6 . Interventionen
6.1 Psychologische Interventionen
6.1.1 Öffentliche Gesundheitsförderung (Public Health), Gemeindepsychologie und -psychiatrie
6.1.2 Interventionen im Einzelfall
6.2 Psychotherapie
6.2.1 Ein weites, kontroverses Feld
6.2.2 Rahmenbedingungen
6.2.3 Wissenschaftlichkeit der Psychotherapie
6.2.4 Verhaltenstherapien
6.2.5 Therapieziele
6.2.6 Therapieplanung: störungs- oder personenbezogen?
6.2.7 Effekte der Psychotherapie und empirische Vergleiche zwischen Therapierichtungen
6.2.8 Allgemeine Psychotherapie
6.2.9 „Psychologische“ Therapie
6.2.10 Perspektiven und Grenzen der Psychotherapie
6.2.11 Gesetzeslage

Teil II Nachbardisziplinen der Klinischen Psychologie

1. Psychologie in der Organmedizin (Medizinische Psychologie)
1.1 Überblick
1.2 Ist Medizinische Psychologie als eigene Disziplin notwendig?
1.3 Grundeinstellungen und Akzente: Psychologie des Patienten und/oder Verhaltensmedizin?
1.4 Ausgewählte Bereiche
1.4.1 Arzt-Patient-Interaktionen
1.4.2 Vorbereitung auf medizinische Maßnahmen
1.4.3 Coping mit schwerer Krankheit: Krebs als Prototyp

2. Gemeindepsychologie
2.1 Aufriss
2.2 Ansatzpunkte und Handlungsfelder
2.3 Ziele und Wertsysteme
2.4 Wissenschaftlichkeit: Empirie
2.5 Gemeindepsychologie und Psychologie
2.6 Resümee

3. Gesundheitspsychologie
3.1 Aufriss
3.2 Gesundheit und ihre Dimensionalität
3.3 Gesundheitsverhalten und Prävention
3.3.1 Gesundheitsverhalten
3.3.2 Prävention
3.4 Gesundheit und Gesundheitspsychologie
3.4.1 Anbindung an die Grundlagenfächer der Psychologie
3.4.2 Persönlichkeitskonstrukte: Protektive Persönlichkeitsfaktoren
3.5 Modelle in der Gesundheitspsychologie
3.5.1 Modell der Salutogenese
3.5.2 Modelle des Gesundheitsverhaltens
3.6 Fazit

4. Public Health
4.1 Aufriss
4.2 Ansatzpunkte und Zielebenen
4.3 (Gesundheits-)Psychologie und Public Health
4.3.1 Zueinander der Disziplinen
4.3.2 Empirische Beiträge der Psychologie zu Public Health
4.4 Fazit

Teil III Reformbedarf und Alternativen

1. Aufriss

2. Grundeinstellungen und Leitlinien klinisch-psychologischer Tätigkeit

3. Psychiatriereformen
3.1 Prolog
3.2 Grundzüge der Struktur der psychiatrischen Versorgung in Deutschland
3.3 Psychiatriereformen
3.3.1 Reformen in der stationären Psychiatrie
3.3.2 Zu den Reformen in der ambulanten und komplementären Psychiatrie
3.3.3 Empowerment und Partizipation
3.4 Behandlungsalternativen in der Psychiatrie

4. Klinische Psychologie und Psychiatriereform
4.1 Spezialisierung vs. Alltäglichkeit
4.2 Klinische Psychologie im Rahmen der Gemeindepsychiatrie
4.3 Klinisch-psychologische Diagnostik in der Psychiatrie
4.4 Psychologische Interventionen in der Psychiatrie
4.5 Initiativen der Klinischen Psychologie zur Psychiatriereform



Inhaltsverzeichnis als pdf-Download

Leseprobe:

Vorwort

(…) Die vorliegende Monografie will nicht mit den hervorragenden Lehrbüchern der Klinischen Psychologie etwa von Bastine oder Baumann und Perrez konkurrieren. Im Vordergrund steht vielmehr die Auseinandersetzung mit einigen Entwicklungen der „Mainstream“-Psychologie und die Akzentuierung von abweichenden Positionen und Reformnotwendigkeiten.
In den 70er Jahren befand sich die Klinische Psychologie – wie weite Teile unserer Gesellschaft – in einer völlig anderen Situation als heute. Die Klinische Psychologie war zwar zu Beginn der siebziger Jahre schon weit entwickelt, hatte sich aber nicht annähernd so stark in der Medizin und in vielen Bereichen der gesamten Gesellschaft etabliert wie heute. Es galt seinerzeit vor allem, eine angewandte Disziplin voranzubringen, die den Theorien, Methoden und empirischen Ergebnissen der Psychologie verpflichtet war, zumal damals der weitgehend unkontrollierte, praxeologische oder die Selbsterfahrung überbetonende Psychoboom seinem Höhepunkt zustrebte. Die wissenschaftliche „Bastion“ wurde oft auch als letzter Halt gegen allzu radikale Veränderungswünsche und Demontagen von Personen und Konzepten aufgebaut und aufrechterhalten (vgl. von Kardorff, 2000).
Nach den Stürmen der 70er Jahre und einer Zeit der eher pragmatischen Orientierung gibt es inzwischen eine wesentlich fundiertere Klinische Psychologie, die sich manchmal allzu vollmundig naturwissenschaftlich geriert (vgl. Vorwort Hautzinger in Davison & Neale, 1996) oder im Hinblick auf die Psychotherapie mit dem Untertitel „von der Konfession zur Profession“ (Grawe, Donati & Bernauer, 1994) einen überaus festen Kanon an Therapiemethoden vorschützt (vgl. auch Fiedler, 1996). Man braucht nur nachzuschlagen, welche Störungsgruppen nicht im Sachwortverzeichnis von Grawe et al. (1994) enthalten sind oder welche – wie etwa die Schizophrenie – nur ganz wenige Seiten umfassen, um zu erkennen, dass diese „Ausgereiftheit“ sich vor allem auf bestimmte Störungen bezieht, die früher häufig als „kleine Psychiatrie“ apostrophiert wurden.
Heute ist die Klinische Psychologie in einer erfreulich starken – oft geradezu begeisternden – Position, die jedoch fast ohne fundamentale kritische Auseinandersetzungen durchgehalten wird. Es scheint also angebracht, ein „unzeitgemäßes“ (der frühere Bundespräsident von Weizsäcker in einem Interview über die Aufgabe der Politik) Buch zu schreiben, das den Mainstream in seinen Methoden weitgehend respektiert, sich aber von den Einstellungen her nicht nur an diesem ausrichtet. Eine allzu frühe Kanonisierung und Professionalisierung der Klinischen Psychologie könnte zur Vernachlässigung entscheidender Erkenntnisse und Interventionsmöglichkeiten führen. Das gilt vor allem für den Bereich der Psychosen bzw. Ansätze der Psychiatriereform. Beispielsweise ist eine weit vorangetriebene formale Verfeinerung der klinischen Klassifikationssysteme m.E. nur sinnvoll, wenn gleichzeitig die Diskussion über psychische Störungen, ihre Bedeutung für die Person, ihre alternativen Erklärungsmöglichkeiten und über die Gleichzeitigkeit von psychischer Krankheit und Gesundheit (vgl. Bock, 1997) und die Berücksichtigung gesunder Anteile und von Ressourcen erfolgt und die Lebenswelt einbezogen wird.
Befand sich die Intervention bis in die achtziger Jahre noch im ständigen Kampf um Anerkennung, so ist sie durch das Psychotherapeutengesetz, das Anfang 1998 nach über 25 Jahren der „Entwicklung“ in Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde und 1999 in Kraft getreten ist, endlich rechtlich abgesichert. Allerdings ist es ein Psychotherapeutengesetz und nicht, wie ursprünglich angestrebt, ein Psychologengesetz geworden, das zudem eine Ausbildung und keine Weiterbildung zum Psychotherapeuten umfasst und damit ökonomische und soziale Ungerechtigkeiten impliziert. Zudem wird der ohnehin starke Fokus der Klinischen Psychologie auf wenige Methoden vor allem der Psychotherapie einzelner Individuen durch diese Entwicklungen noch verstärkt und damit auch die Organisation der Einzelfallarbeit nach dem Modell niedergelassener Ärzte. Eine gemeindepsychologische Orientierung und die Stärkung von Empowerment und Partizipation werden durch die vorherrschende Praxis nicht unterstützt. Reformen werden zwar von Psychologen relativ oft gefordert, aber fast nie initiiert: oft werden sie nicht einmal mitvollzogen oder auch nur wahrgenommen. Ein Anliegen dieses Buches ist es, über die in Forschung und Praxis dominierenden (natur-)wissenschaftlichen Ansätze hinaus, andere Grundeinstellungen sowie andere theoretische und praktische Herangehensweisen exemplarisch darzustellen und zu diskutieren. Vielleicht können solche Überlegungen dazu beitragen, dass einige Kolleginnen und Kollegen Alternativen stärker als bisher beachten und auf einem emanzipatorischen Weg ermutigt werden.
Unterschiedliche Positionen sowie zurückliegende und aktuelle Kontroversen sollen deshalb einen relativ breiten Raum erhalten, ohne die oft fruchtlosen „68er“-Diskussionen wieder aufleben zu lassen. Argumente von Laien und Betroffenen werden neben wissenschaftlich abgesichert erscheinenden Positionen als Denkanstöße aufgegriffen. Brüche – auch im eigenen Denken – werden nicht unbedingt verkleistert, sondern gelegentlich gerade – beispielsweise durch Kästen – betont. Das soll keine Ausrede für logische und informationsbedingte Defizite beim Autor sein. Mit diesem Buch werden durchaus unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt. Einerseits geht es um einige grundlegende Ausführungen zur erfreulich weit gediehenen Konsolidierung der Klinischen Psychologie (Teil I) und einiger wichtiger Disziplinen, die sich allmählich entwickelten und unterschiedliche Bedeutung im Fächerkanon der Psychologie erlangt haben (Teil II). Andererseits werden in Teil III exemplarisch Alternativen und Ansätze für Reformen der vorherrschenden Betrachtungs- und Vorgehensweisen erörtert. Die Angst vor der übermäßigen Zersplitterung oder gar einer Zerreißprobe der Klinischen Psychologie wie sie Wittchen (1996) diskutiert, teile ich nicht. Vielmehr bieten neue Entwicklungen und Auseinandersetzungen die Möglichkeit, das Überkommene immer wieder zu reflektieren und zu erweitern.
Da psychische Störungen bzw. Krankheiten vielfältig in aktuellen Lehr- und Handbüchern der Klinischen Psychologie und der Psychiatrie dargestellt werden und da eine Auseinandersetzung mit diesem Bereich enorm viel Platz einnehmen würde, soll er hier nur exemplarisch angesprochen werden. (…)

Reformbedarf und Alternativen


Die Klinische Psychologie sowie die Psychologie im Medizinsystem und im Bereich Public Health haben große Fortschritte erzielt und sich in der Forschung und vielen Arbeitsfeldern etabliert. Allerdings hat sich – wie schon unter verschiedenen Aspekten angesprochen – in der Praxis der Klinischen Psychologie immer mehr ein korrektives, kuratives Vorgehen durchgesetzt. Fiedler (2000) bezeichnet die Psychotherapie als „Reparaturbetrieb“ und Auckenthaler (2000) warnt vor der übermäßigen, störungsbezogenen Manualisierung und dem damit verbundenen Menschen- und Behandlungsbild. Das Psychotherapeutengesetz einerseits und die symptomorientierten, in vielen Klassen sehr oberflächlichen, wenn auch formal präzisen Klassifikationssysteme andererseits verstärken diese Tendenzen noch zusätzlich. Primäre und sekundäre Prävention sind die Ausnahme, Versuche zur Optimierung der Entwicklung gehen von der Klinischen Psychologie so gut wie gar nicht aus. Dazu gehört in der Gesundheitspsychologie auch die starke Konzentration auf Individuen, mit der oft eine Ausblendung des Lebenskontextes einhergeht. Bei sehr gezielten Therapien, insbesondere wenn die Störungen funktionell autonom sind, kann dies große Vorteile haben, da sich die Therapeuten nicht durch wechselnde soziale Beziehungen und andere Kontextvariablen „ablenken“ lassen, sondern ihr Programm ökonomisch durchziehen können (patient management). Dadurch wird wohl auch in vielen Fällen Sicherheit vermittelt und die Chancen auf (relativ rasche) Therapieerfolge weiter erhöht. Darüber hinaus gibt es bei allen Erfolgen der Klinischen Psychologie aus meiner Sicht dennoch einen weiteren großen Bedarf an klinisch-psychologischen Leistungen, der bisher nicht oder nur selten gedeckt wird – ganz besonders gilt dies für die Notwendigkeit von Innovationen im Versorgungssystem und die Organisation und Zielsetzung psychologischer Vorgehensweisen. Das hängt mit sehr unterschiedlichen Aspekten zusammen, von denen nachfolgend einige umrissen werden. Einige Gesichtspunkte wurden in dieser Monografie immer wieder in verschiedenen Kontexten herangezogen und sollen jetzt etwas gebündelt werden, wobei es mir vielmehr darum geht, Fragen aufzuwerfen. Die „Antworten“ fallen wesentlich schwerer, sie fehlen (mir) zum Teil, und zum Teil sind sie eher pragmatisch; etwa auf die Psychiatriereform bezogen (vgl. III.3).
Mein Plädoyer zielt darauf ab, in der Klinischen Psychologie eine Reihe von Zugängen zu hinterfragen, sich nicht zu früh zurückzulehnen und sich vor allem nicht mit bestimmten konsensuell als wissenschaftlich akzeptierten oder „naturwissenschaftlich abgesicherten“ und fundiert klingenden Vorgehensweisen zufrieden zu geben. Trotzdem steht es für mich außer Zweifel, dass alle alternativen und reformerischen Ansätze, um zur psychologischen Wissenschaft gezählt zu werden, (irgendwann) auf den empirischen Prüfstand müssen.
Ohne eine wertereflektierende Diskussion können die meisten diagnostischen und interventionsbezogenen Methoden der Psychologie wie der Medizin im Rahmen jeder Gesellschaftsform und jeder Sozialpolitik Verwendung finden und im jeweiligen Interesse instrumentalisiert werden. Am Beispiel der Medizin, die an den schrecklichen Entwicklungen während der Zeit des Nationalsozialismus als professionelle Disziplin stärker beteiligt war, können die Auswirkungen politischer Konformität und eines vermeintlich unpolitischen Arbeitens am besten verdeutlicht werden (…).

Die Entwicklungen der Politik und des Zeitgeists, der Sozialpolitik und der Gesundheitssysteme spielen immer in Entwicklungen der Medizin und der Klinischen Psychologie hinein. Im Kontext der Klinischen Psychologie werden nachstehend einige Zugänge sehr unterschiedlicher Bedeutung und „Reichweite“ angesprochen, die die Aufmerksamkeit auf Aspekte lenken sollen, die über die rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen und aus denen sich ein unterschiedlich akzentuierter Reformbedarf erschließen läßt. Diese Aspekte bestimmen wissenschaftliche Entwicklungen in hohem Maße und sind der Forschung gleichsam vorgelagert.

(1) Die Analyse globaler und zumindest gesellschaftlicher Aspekte in ihren Implikationen für die Klinische Psychologie steckt noch in den Kinderschuhen. Durch die Verbindung zu Public Health werden wichtige Impulse gegeben, auch Umwelt- bzw. Ökopsychologie leisten bereits wichtige Beiträge (vgl. II.4).
Im Zusammenhang mit einer gesellschaftsbezogenen Betrachtungsweise ergeben sich mehrere Problemfelder unterschiedlicher Tragweite. Zunächst einmal ist zu diskutieren, ob die Einzelfallarbeit bei vielen Problemstellungen überhaupt sinnvoll ist oder ob aus Gründen der umfassenderen Ätiologie und der Aufrechterhaltung von Störungen und Krankheiten die auf gesellschaftliche Bedingungen bezogene Analyse nicht am Anfang stehen und die Interventionen leiten sollte (vgl. I.6.1).
In der Entwicklungspsychologie hat man sich spätestens seit Bronfenbrenner mit den Aspekten des Individuums in der Umwelt, mit den Einflüssen von Kultur und Ökologie auseinander gesetzt (vgl. Montada, 1998; Oerter, 1998). In der Klinischen Psychologie muss eine solche Aufarbeitung noch stärker erfolgen. Für die Klinische Psychologie und speziell die Gesundheitspsychologie stellt sich die Frage, ob diese Bedingungen allein in ihrer ätiologischen Bedeutung analysiert und bei Interventionen berücksichtigt werden sollen (was häufig genug nicht geschieht) oder ob es vielmehr gilt, die Bedingungen soweit wie möglich zu verändern. Solche emanzipatorischen Ziele steckt sich die WHO mit der Gesundheitsförderung, insbesondere mit der Forderung nach Gesundheit für alle. Es fragt sich allerdings, ob die psychologischen Anteile und Aufgaben einer (öffentlichen) Gesundheitsförderung mit der Klinischen Psychologie verbunden sein sollen. Mir scheint es dagegen sinnvoller, dafür getrennte Disziplinen weiterzuentwickeln, wie es sich ja auch bereits abzeichnet.

(2) Die Psychologie ist häufig zu weit entfernt von der Lebenswelt (auch ätiologisch, biographisch) vieler Menschen, insbesondere bei der Intervention zu wenig auf den Alltag der Menschen orientiert und zu wenig in der Gemeinde präsent. Insgesamt fehlt es an funktionsfähigen interprofessionellen Diensten, die für alle Menschen, die es wollen, (niederschwellig) zugänglich sind. Am ehesten wird diese Funktion durch Krisendienste in der Gemeinde beispielsweise für Misshandlungsfälle und durch Telefondienste erfüllt, die aber für die Fülle unterschiedlicher Aufgaben nicht ausreichen und bei weitem nicht überall vorhanden sind. Eine sowohl gesundheits- als auch klinisch-psychologisch orientierte Gemeindepsychologie wäre zur Wahrnehmung dieser Aufgaben wohl am besten in der Lage.

(3) Die klinisch-psychologische Tätigkeit mit einzelnen Individuen hat in Diagnostik und Intervention ein hohes technisches Niveau erreicht. Allerdings geht – nach meiner Einschätzung – in der (Routine )Arbeit und bei der zunehmenden Störungsbezogenheit von Diagnosen und Interventionen die Person des Klienten mit ihren Ressourcen und Netzwerken häufig unter. Damit hängen auch einige Gesichtspunkte von Empowerment und Partizipation zusammen, die oft noch zu wenig beachtet werden. In der Psychiatrie wie in der Klinischen Psychologie ist ein alternativer Zugang zum vorherrschenden „Begründungsmodell“ (auf der Basis empirischer Psychotherapieforschung) das „Verhandlungsmodell“, wie es Westmeyer (1984) expliziert hat. In der Einzelfallarbeit ist prinzipiell ein stärkerer Subjektbezug anzustreben. Die Klinische Psychologie muss sich ähnlich wie viele Bereiche der Medizin davor hüten, Interaktionen schematisch nach systemimmanenten Routinen durchzuführen. Eine Art „Psychologie des Patienten bzw. Klienten“, die dessen persönliche Bedürfnisse und Schwierigkeiten mitreflektiert, ist in vielen Bereichen wünschenswert.

(4) Die Indikation psychologischer Interventionen ist trotz aller Vielfalt stark auf bestimmte Störungsgruppen beschränkt. Sie muss – nach Erfahrungen im Feld und wissenschaftlichen Ergebnissen – erweitert werden (z.B. auf Störungen des schizophrenen Formenkreises, vgl. III.3) oder zumindest müssen bei bisher zu wenig beachteten Störungen, insbesondere Psychosen, psychologische Methoden häufiger verwendet werden (vgl. Urban, 2000).

(5) In der klinisch-psychologischen Praxistätigkeit erfolgt eine kaum (mehr) diskutierte Zentrierung auf eine Klientel aus der Mittel- und Oberschicht und eine Orientierung an den Werten und Normen dieser Schichten. An der Arbeit mit Randgruppen, mit Angehörigen der Unterschicht ist die Klinische Psychologie wenig beteiligt und dafür auch nicht gut gerüstet. Wie Eberwein und Knauer (1998, S.13) zitieren, sind „Reisen“ in den „Alltag einer Arbeiterfamilie“ für die meisten von uns „wie Reisen in fremde Länder.“ Man kann deshalb aus Erfahrungen in anderen Bereichen und nach Beobachtungen in der Psychiatrie davon ausgehen, dass die Beziehung und damit zusammenhängende Akzeptanz von Fachleuten zumindest besser gelingt, wenn die wahrnehmbare Distanz gering ist.

(6) Psychologinnen und Psychologen sind derzeit in der großen Mehrheit nicht auf Reformen ausgerichtet, sondern vielmehr auf durch effiziente Arbeit und Qualitätszirkel gesicherte Besitzstandwahrung. Die wertgebundenen und organisatorischen Bedingungen der Tätigkeitsfelder werden meist übernommen, kaum größere Alternativentwürfe vorgelegt oder gar umgesetzt. Andererseits gibt es auch einige Psychologinnen und Psychologen, die sich stark für Reformen engagieren und meist im Umfeld der Gemeindepsychologie oder psychiatrie angesiedelt sind (vgl. Knuf & Seibert, 2000; Teuber et al., 2000; Kapitel II.2). Das Psychotherapeutengesetz verstärkt allerdings sowohl die individuelle Niederlassung als auch Behandlungskonzepte und Abrechnungsmodalitäten, die von der Lebenswelt der Klientinnen und Klienten eher entfernt sind. Zudem ist der Zugang nicht niederschwellig genug, um eine breitere soziale Repräsentanz zu ermöglichen.

(7) Die Lokalisation und Gestaltung des psychologischen Arbeitsplatzes bzw. feldes sind zur Lösung der meisten oben angesprochenen Probleme nicht geeignet. Die psychologische Praxis besteht in der Regel aus einem oder mehreren („bürgerlichen“) Räumen, Büros oder laborähnlichen Bereichen. Auf psychiatrischen oder anderen medizinischen Stationen sind viele Psychologinnen und Psychologen nicht ständig präsent, sondern bestimmte, ausgewählte Patienten werden gezielt zu ihnen geschickt. Im Rahmen der Psychiatriereform gibt es inzwischen aber eine zunehmende Zahl von Psychologinnen und Psychologen, die überwiegend auf Stationen arbeiten oder diese sogar leiten und die durch Hausbesuche, Behördengänge usw. den Lebensweltbezug herstellen.

(8) Die Klinische Psychologie kann sich in Versorgungsfragen nicht nur an der Psychiatrie orientieren, sondern muss sich auch Fragen der gesamten „Versorgung“ von psychisch gestörten und kranken Menschen (ambulant und stationär) zuwenden. Die wichtigste Anlaufstelle für Krankheiten aller Art, aber auch für „Probleme“ sind (niedergelassene) Ärzte, sehr oft Allgemeinärzte. In die Praxen niedergelassener Ärzte kommt ein sehr hoher Prozentsatz von Menschen, die auch psychische Störungen aufweisen, jedoch nicht oder erst verspätet psychologisch behandelt werden. Wie bereits in Kapitel I.6.1 ausgeführt wurde, fehlt es vielerorts an interdisziplinären Teams in der Versorgung der ersten Linie. Weiterhin sind Krisendienste, die rund um die Uhr erreichbar sind und auch psychologische Hilfe direkt anbieten, kaum vorhanden. In deutschen Allgemeinkrankenhäusern, in denen ebenfalls sehr, sehr viele Menschen von psychologischen Interventionen profitieren könnten, ist die Situation ähnlich. Während beispielsweise in den Niederlanden Psychologinnen und Psychologen fest in den professionellen Mitarbeiterkreis gehören, ist ihre Beteiligung – etwa im Rahmen von Liaison-Diensten im Krankenhaus – in Deutschland eher die Ausnahme (vgl. Ehlert, 1998).

(9) Die Notwendigkeit zur Implementierung von psychologischen Diensten in weiten Bereichen der psychosozialen Versorgung sollte ebenfalls nicht aus den Augen verloren werden (vgl. Fiedler, 1992). Auf einer interprofessionellen Tagung über Partizipation und Empowerment 1998 in München wurden vielfältige Bereiche diskutiert, die auch für die Klinische Psychologie von Belang sind, wie Arbeitslosigkeit und ihre Folgen, Sozialhilfe, Sozialstaatsprinzip, Stadt- und Stadtteilarbeit, Arbeit mit Nichtsesshaften (für die die Zuständigkeiten oft nicht ausreichend geregelt sind) oder Probleme von Minoritäten (vgl. Teuber et al., 2000).

(10) Obwohl die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen traditionell ins Zentrum der Klinischen Psychologie gehört, ist es erstaunlich, wie wenig psychologische Fachleute in die schulische Integrationsbewegung für behinderte Menschen involviert sind (vgl. Eberwein & Knauer,1998; Hildeschmidt & Schnell, 1998).


[ Zur Übersicht ]